Im Gespräch:

Wie uns der Bewegungsvirus sicher packt

Sport, nein danke! Drei Viertel der Menschheit hat keine Lust auf Bewegung, das besagen Erfahrungen von Professor Dr. Ingo Froböse, Professor für Prävention und Rehabilitation an der Deutschen Sporthochschule. Sein Fitness-Minimalprogramm soll es möglich machen, Übungen ohne großen Zeitaufwand in den beruflichen Alltag zu integrieren. Im Interview erklärt er, welche Trainingsmöglichkeiten es gibt, wie sie sicher umgesetzt werden können und bezieht Stellung dazu, ob Arbeitsschutzbestimmungen im Hinblick auf mehr Bewegung geändert werden sollten.

Froboese

Professor Dr. Ingo Froböse.                    Copyright: Jörn Neumann

Weshalb lässt sich Bewegung so schwer in den Alltag einbauen?

Froböse: Körperliche Aktivität verschwindet aus unserem Leben. Es gibt keine Fußballplätze mehr vor der Haustür für die Kinder, Wohnungen werden barrierefrei gebaut und beim Zähneputzen nimmt uns eine elektrische Bürste die Auf- und Ab-Bewegung der Arme ab. Wir wissen zwar viel darüber, dass und wie wir uns bewegen sollen, wollen uns aber nicht damit beschäftigen. So kommt es, dass der deutsche Mann heute höchstens 4000 bis 5000 Schritte am Tag tut, das entspricht etwa drei Kilometern. Frauen sind nur wenig mehr unterwegs. Kein Vergleich zur menschlichen Frühgeschichte, in der wir problemlos 35 Kilometer täglich durch die Savanne liefen.

Und jetzt?

Froböse: Wir leben eben eher im Schlaraffenland als in der Savanne und müssen deshalb andere Wege gehen. Das heißt, die Bewegung muss zu den Menschen kommen.

Das hört sich bequem an…

Froböse: Ist aber nicht so gemeint. Es geht darum, die Möglichkeiten im Alltag zu finden. Denn das „Medikament“ Bewegung ist erwiesenermaßen hilfreich: Durch den Trainingsreiz, den unser Körper dadurch bekommt, sagen wir zahlreichen Krankheiten, also etwa Immunerkrankungen und sogar Krebs, den Kampf an. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO sterben 5,3 Millionen Menschen pro Jahr an den Folgen von Bewegungsmangel, also etwa an Bluthochdruck oder Diabetes.

Aber wie schaffen wir das Comeback der Bewegung ohne großen Aufwand?

Froböse: Am Arbeitsplatz beispielsweise wunderbar im Treppenhaus. Wer jede Stufe nimmt, trainiert seine Ausdauer und stimuliert das Herz-Kreislauf-System. Nimmt man alle zwei Stufen, wird die Muskulatur gereizt, weil das eigene Körpergewicht mehr angehoben werden muss. Optimal wäre es, jede Stunde die Arbeit zu unterbrechen und drei Mal drei Etagen ganz schnell empor sowie ganz langsam wieder hinab zu steigen. Damit wäre man in vier Minuten fertig und würde sich anschließend ebenso entspannt wie vital fühlen. Das perfekte Programm für den Stoffwechsel, bei dem negativer Stress positiv gewandelt wird, weil dem Körper ein Ventil gegeben wird – wir sprechen von ,HIT’, also High Intensity Training.

Ist ein solches Training nicht riskant? Ein großes Chemieunternehmen, das sich als Vorreiter für Arbeitssicherheit versteht, hat es seinen Angestellten geradezu verboten, zwei Stufen auf einmal zu nehmen. Außerdem sind Treppen durchaus gefährlich. Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung zählte 2012 rund 29 500 Arbeitsunfälle auf Treppen. 381 der Unfallopfer wurden aufgrund ihrer Verletzungen zu Frührentnern, es gab sogar einen Todesfall. Wie denken Sie vor diesem Hintergrund über die Frage der Sicherheit?

Froböse: Natürlich sollte die eigene Sicherheit stets im Fokus stehen – weshalb Hinweise nach wie vor wichtig und richtig sind. Aber es doch so, dass unsere Muskulatur und ebenso unser Gleichgewicht uns mit dem Rückzug strafen, je weiter wir unseren Bewegungsradius und unsere Beweglichkeit im Alltag einschränken. Die Folge ist, dass wir abbauen! Klar ist dann aber auch, dass wir etwa beim Stolpern oder in anderen Situationen, die Reaktionsfähigkeit erfordern, nicht mehr so schnell agieren können als wenn diese Kompetenz stetig im Alltag „trainiert“ wird. Im Rahmen der eigenen Möglichkeiten und Handlungsfähigkeit macht es demnach tatsächlich Sinn, unsere Muskulatur und mit zunehmendem Alter auch stetig das eigene Gleichgewicht und die Koordination zu fördern und zu fordern. So bleiben wir flexibel und vermeiden nicht zuletzt auch Stürze. Hinzufügen muss man an dieser Stelle zudem, dass wohl die meisten Unfälle aufgrund unserer Fallneigung auf dem Weg nach „unten“ passieren. Betrachten wir die Treppe als Trainingsstätte, so ist damit aber stets der Weg nach oben gemeint. Er fordert unser Herz-Kreislauf-System weit mehr, als wenn wir die Treppe hinunter gehen. Das Training, so kann man es vielleicht abschließend sagen, steht damit in keiner Konkurrenz zur Sicherheit.

Sicherheitsfachleute geben Ratschläge wie: „Aufmerksam gehen, nicht hetzen“ oder „Überspringen Sie keine Stufen und benutzen Sie immer den Handlauf“. Sollten diese Tipps abgewandelt werden?

Froböse: Unbedingt! Mit solchen pauschal gegebenen Hinweisen unterfordern wir auf bewegungsbezogener Ebene nicht zuletzt jene, die durchaus noch leistungsfähig sind, anstatt lediglich Menschen zu schützen, für die das Hetzen oder Überspringen von Stufen eine Gefahr darstellen könnte.

Muss man Ihrer Meinung nach vielleicht sogar die Arbeitsstättenverordnung ergänzen – im Hinblick auf die Rolle von Bewegung?

Froböse: Vorsicht ist wichtig, aber sie darf nicht auf Kosten biologischer Notwendigkeiten gehen. Hier würde ich mir auf jeden Fall eine deutliche Differenzierung wünschen. Denn zur Arbeitssicherheit gehört in meinen Augen auch die Erhaltung der Gesundheit, die in manchen Fällen mehr eingeschränkt als gefördert wird.

Wie lassen sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dazu motivieren, sich mehr zu bewegen?

Froböse: Zum Beispiel, indem Arbeitgeber als Vorbilder auftreten und sich nicht wie üblich den Parkplatz direkt neben dem Eingang zur Firma reservieren, um kurze Wege zu haben. Sondern einen „Fitnessparkplatz“, der weit entfernt von der Tür liegt. Fahrradständer gehören vor jedes Unternehmen und ich würde als Chef Belohnungen an diejenigen verteilen, die zum Arbeitsplatz radeln oder eine Station zu früh aus Bus oder Bahn austeigen, um ein Stück zu Fuß gehen. Apropos Bus oder Bahn: Warum nicht lieber stehen, gern auch freihändig, statt zu sitzen? Wer auf diese Weise in der S-Bahn „surft“, kräftigt seine Muskulatur und übt seinen Gleichgewichtssinn.

Und wenn Kolleginnen und Kollegen im Bewegungs-Wettstreit gegeneinander antreten?

Froböse: Ja, das kann ein Einstieg sein – wenn es zum Beispiel zur EM Gruppenwettbewerbe gibt, bei denen die Schritte gezählt werden und man sich im Team fragt, wer am schnellsten in Rio de Janeiro angekommen ist (im übertragenen Sinne). Dennoch muss auf die Dauer nicht der Kopf, sondern der Bauch angesprochen werden. Bewegung sollte zu einem persönlichen Erlebnis werden. Das kann gelingen, indem man beispielsweise einen Vertrag mit sich selbst darüber abschließt, wie viele Kilo man abnehmen will – und darüber auch mit seinem Umfeld redet. Dann kommen die Nachfragen, wie weit man gekommen ist, wo man gerade steht. Das spornt an.

Aber der „innere Schweinehund“ lässt sich nicht ganz zum Schweigen bringen…

Froböse: Nein, ein Durchhänger nach acht bis zwölf Wochen ist normal. Da hilft es, sich einerseits von Anfang an nicht zu viel vorzunehmen. Also etwa nur drei bis vier statt 20 Kilo abnehmen zu wollen. Andererseits kann sich derjenige belohnen, der ein kleines Etappenziel schafft – etwa mit einem neuen Paar Turnschuhe, das seinen Bewegungsplan unterstützt. Muss man sein Programm unterbrechen, weil man zum Beispiel dienstlich unterwegs ist, gibt es Kompensationsmöglichkeiten…. indem man etwa ein paar Straßenecken vor dem Ziel aus dem Taxi steigt und den Rest der Strecke stramm läuft. Wichtig ist es, den Bewegungsvirus wieder zu spüren und nicht bis zur Erschöpfung zu trainieren. Immer das Gefühl haben, subjektiv unterfordert zu sein und dadurch ein positives Erlebnis zu erhalten, darauf kommt es an.

Gelten dabei für ältere und jüngere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer andere Bedingungen?

Froböse: Im Grunde nicht, denn die Zellteilung im Körper – etwa in der Haut oder im Darm – sorgt ja dafür, dass auch die Älteren jugendliche Zellstrukturen haben. Sie müssen allerdings aktiver sein als Jüngere, um deren Vitalität zu kompensieren. Das bedeutet zum Beispiel, unser größtes Stoffwechselorgan, die Muskulatur, mit zwanzig Kniebeugen neben dem Bürostuhl energetisch zu belasten. Oder sich auf dem Stuhl zwischendurch immer wieder vor und zurück zu bewegen, um Bauch ebenso wie Rücken zu trainieren. Dabei sollte die Muskulatur auf jeden Fall ein wenig brennen, damit wir einen Reiz spüren.

Gibt es spezielle Bürostühle oder Mobiliar, das Bewegung unterstützt?

Froböse: Ja! Und auch wenn Möbel, welche zur Bewegung einladen und die ergonomischen Anforderungen der Physiologie des Büromenschen berücksichtigen, oftmals nicht ganz günstig sind, ist der Mehrwert deutlich spürbar. Zum Beispiel laden höhenverstellbare Schreibtische dazu ein, eine gewisse Zeit im Stehen zu arbeiten.

Was halten Sie von Laufbändern oder „Fahrradstühlen“, die am Arbeitsplatz installiert werden – ist das nur ein Trend oder fördert es wirklich die Gesundheit?

Froböse: Mehr Bewegung fördert die Gesundheit, wichtig ist, dass man es tut! Die Industrie reibt sich garantiert die Hände bei solchen Investitionen. Ob Mitarbeiter, die vorher Bewegungsmuffel waren, ihr Verhalten ändern, wenn sie solche nicht ganz preiswerten Geräte „vorgesetzt“ bekommen, wage ich allerdings zu bezweifeln. Zudem sehe ich den Mehrwert als fraglich für den Arbeitgeber an, wenn sich die Mitarbeiter beim Radeln am Schreibtisch beispielsweise nicht mehr konzentrieren können. Sport, der direkt am Arbeitsplatz betrieben wird, ist in meinen Augen in der Umsetzung eher schwierig. Eine gesundheitsförderliche Alternativ-Investition könnte ein Betriebsrad sein, welches dem Mitarbeiter ermöglicht, zur Arbeit zu radeln und den Alltag aktiver zu bestreiten.

Ist es sinnvoll, seine Schritte zu zählen, um seine Bewegungsfrequenz zu überprüfen?

Froböse: Ich denke, es ist besser, sich nach seinem Bauchgefühl zu richten und auf diese Weise locker Bewegungspunkte im Alltag zu sammeln. Wer dabei immer Zahlen im Kopf hat, kann schnell mutlos werden. Denn die täglichen 10 000 Schritte, die propagiert werden, entsprechen einer Expertenmeinung und sind meiner Ansicht nach zu hoch gegriffen.

Zum Weiterlesen: Das Fitness-Minimalprogramm, Prof. Dr. Ingo Froböse, Gräfe und Unzer, Ratgeber Gesundheit, 2015, 12,99 Euro.