Im Gespräch:

Kompetenzen nutzen, Gefahren richtig einschätzen

Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser? Professor Dr. Rüdiger Trimpop, Inhaber des Lehrstuhls für Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie an der Friedrich Schiller-Universität Jena, erklärt im Basi-Interview, wie Menschen richtiges Verhalten am Arbeitsplatz verinnerlichen können.

Die meisten Unfälle am Arbeitsplatz passieren, weil sich jemand falsch verhält – ist das richtig?

Ich sehe das zweischneidig. Es stimmt, dass 80 Prozent der Arbeitsunfälle als verhaltensbedingt eingestuft und nur rund zwei bis fünf Prozent durch die Technik verursacht werden. Schaut man jedoch genau hin, dann spielt die organisationale Komponente dabei auch eine große Rolle. So gerät etwa jemand mit der Hand in eine Presse, weil er unter Zeitdruck gesetzt wird. Oder eine Lichtschranke wird umgangen, weil sich auf diese Weise die Arbeit am schnellsten erledigt lässt.

Steckt dahinter nicht auch menschliches Fehlverhalten?

Ja. Aber bei 99 Prozent der rein verhaltensbedingten Unfälle finden wir auch Organisationsfehler von Führungskräften oder Fehlplanungen von Mitarbeitern. Das heißt, es geht nicht nur darum, das Verhalten desjenigen zu verändern, der den letzten Fehler in der Kette begeht. Auch die Arbeits- und Organisationsgestaltung oder das Führungsverhalten müssen geändert werden. So wäre es zum Beispiel wichtig, nicht nur ein günstiges, sondern auch ein sicheres Gerät zu kaufen, wenn ein neuer Arbeitsplatz eingerichtet wird. Das bedeutet im Einkauf eine Änderung des Denkens und Verhaltens. Im Betrieb entsteht dadurch eine Verhältnisänderung: Eine andere Maschine bedingt auch andere Prozesse.

Wie können Sicherheit und Gesundheit auch im betrieblichen Alltag einen anderen Stellenwert bekommen?

Wichtig wäre es, dazu Fragen bei Einstellungsgesprächen zu stellen sowie Jahresgespräche zum Arbeitsschutz einzuführen. So denken Personalleiter daran und es stellt sich eine Verhaltens- sowie Bewusstseinsänderung ein. Die Kultur des Betriebs kann sich dahingehend ändern, dass es nicht nur um Ertrag, sondern auch um Leistungen in Sicherheit und Gesundheit geht.

Müssen dazu Anreize gegeben werden?

Ich beobachte in Betrieben oft, dass zur Verhaltensänderung die falschen Köder genutzt werden. Es geht um Ziele wie Risikominimierung, die zwar Arbeitsschützer gut finden – allerdings im Gegensatz zu anderen, zum Beispiel den Unternehmern. Besser ist es, den alten Spruch zu beherzigen: Der Köder muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler. Denn Unternehmer müssen Risiken eingehen, um etwas zu erreichen. Risiko-Optimierung und Schadensminimierung wären für sie der richtige Anreiz. Außerdem halte ich es für weltfremd, von Menschen zu verlangen, alle Gefahren zu vermeiden. Stattdessen sollte man ihnen beibringen, wie sie ihre Kompetenzen nutzen können, um Gefahren richtig einzuschätzen.

Geben Sie bitte ein Beispiel hierfür.

Ich sage den Sicherheitsfachkräften immer, sie sollten den Nutzen eines Fehlverhaltens erfassen. Sie haben gewonnen, wenn sie es schaffen, die Menschen von einem anderen Verhalten zu überzeugen, bei dem die Idee, oder der Nutzen, die hinter dem falschen Verhalten steckt (etwa Zeitersparnis), erhalten bleibt. Ein bestimmtes Verhalten einfach zu verbieten, klappt in den seltensten Fällen. Deshalb ist es so wichtig, bei einer Gefährdungsbeurteilung den Nutzen des Fehlverhaltens zu erfassen und eine adäquate Maßnahme zu finden – sonst wird diese nicht umgesetzt.

Aber es gibt doch Gesetze…

Richtig. Unternehmer sind allerdings in der Regel nicht daran interessiert, alle Gesetze einzuhalten – deshalb ist Regeltreue nur für wenige ein passender Köder. Man möchte indes nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommen. Deshalb ist es wichtig, bei bestimmten Maßnahmen eine Kosten- und Nutzenabwägung oder vielmehr eine Abwägung von Chancen und Gefahren zu machen. Muss zum Beispiel ein Gerüst aufgebaut werden, um auf einer Baustelle etwas in großer Höhe zu reparieren, so besagt die Regel: Die Baustelle soll still gelegt werden, bis das Gerüst steht. Was macht aber ein Mensch, der Kosten und Nutzen optimiert? Er wählt eine andere Absturzsicherung und so kann jemand hochklettern, um die Reparatur zu erledigen. Auf diese Weise wird eine realistische und sichere Ersatzleistung gefunden, um auf anderen Wegen das Ziel zu erreichen.

Das gilt auch für teure technische Neuerungen, die sich nicht jeder Unternehmer leisten kann. Wer in solchen Fällen günstigere, andere Lösungen vorschlägt, bei denen sich Kosten und Nutzen mit einer vernünftigen Chancen- und Gefahrenabwägung verbinden, kann Unternehmer überzeugen. Was die Mitarbeiter betrifft, so werden diese andere Wege gehen, wenn sie bequem sind. Das geschieht jedoch nicht, wenn man sie verhaltensorientiert zwingt, einen umständlicheren Weg  zu gehen. Es geht darum, Menschen klug zu machen, damit sie eine vernünftige Entscheidung treffen – oder ihnen den Weg in diese Richtung zu bahnen.

Klappt das in jedem Fall?

Ein besonderer Fall ist das Chemieunternehmen Dupont: Dort wird streng kontrolliert, ob Mitarbeiter die Regeln einhalten. Sie erhalten eine Abmahnung oder gleich die Kündigung, wenn dies nicht geschieht. Allerdings wissen die Menschen auch, dass sie  sicher und gesund bei der Arbeit bleiben und bekommen dazu die passende Ausrüstung. Dennoch gehen Dupont, wie auch viele amerikanischen Firmen dahinter, den entgegengesetzten Weg von dem, den ich favorisiere: Dort erhalten die Mitarbeiter keine Handlungs-  und Entscheidungsfreiheit, es gibt einheitliche Standards, an die sie sich halten müssen. In der deutschen Großindustrie wird diese Art der Vorgaben häufig übernommen, mit fatalen Folgen: Der Stress steigt, die Motivation sinkt. Eine Vereinheitlichung der Kontrolle führt häufig zu psychischen Belastungen und nachlässigem Umgang mit Geräten – dadurch entstehen Unfälle. Die Risiko-Optimierung steht dem als bessere Alternative entgegen. Feuerwehrleute wägen ja auch Gefahren und Nutzen ab, bevor sie sich entscheiden, wie sie ein brennendes Haus am besten löschen.

Sie sehen den Kontrollansatz also kritisch?

Ja, denn wenn jeder Schritt genau vorgegeben und dokumentiert wird, reduziert dies die Eigenverantwortung sowie die Motivation und erzeugt im Gegenzug sogar erhöhten Stress. Das zeigen viele Untersuchungen und arbeitspsychologische Modelle. Bei allen Berufen, in denen Weiterentwicklung, Kreativität und neue Ideen wichtig sind, ist ein Kontrollansatz deutlich schlechter als ein einbeziehender Weg mit Freiräumen im Denken und Handeln für die Mitarbeiter. Die Bedeutung der Eigenverantwortung gilt natürlich ebenso im Arbeits- und Gesundheitsschutz und erst recht in der Verkehrssicherheit. Denn da sitzt niemand daneben, sondern wir selbst bestimmen über unsere Sicherheit und Gesundheit. Förderliche Rahmenbedingungen und risikokompetente Mitarbeiter sorgen auch dann für Unfallprävention, wenn niemand sie überwacht oder eine unerwartete Gefahr auftritt. Die Eigenschaften sind dann auch noch in allen organisationalen Prozessen um Qualität und Produktivität nützlich. Alle gewinnen!