Im Gespräch

Arbeiten 4.0 und Digitalisierung: „Weiterbildung ist das Schlüsselwort“

Die Digitalisierung von Tätigkeiten und Verfahren („Industrie 4.0″) schreitet voran – mit Auswirkungen auf das gesamte Gefüge der Arbeitswelt. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat in der vergangenen Legislaturperiode mit der Initiative „Arbeiten 4.0“ wichtige Impulse für die öffentliche Diskussion um Chancen und Risiken der Digitalisierung gesetzt. Mit diesen Themen befasst sich eine zentrale Veranstaltung beim A+A Kongress 2019 am 5. November. Keynote-Sprecher Peer-Oliver Villwock, Leiter der Unterabteilung „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit“ im BMAS, erklärt im Basi-Interview, wie Voraussetzungen für gute Arbeitsbedingungen aus seiner Sicht gestaltet werden können.

Welche Themen und Handlungsansätze stehen für Sie im Zusammenhang mit Chancen und Risiken der Digitalisierung aktuell im Vordergrund?

Villwock: Wir wissen nicht, was in Zukunft produziert wird und wie dies geschieht. Aber wir brauchen Menschen, die mit den neuen Produktionsbedingungen sowie Formen der Arbeitsorganisation umgehen können, die einschätzen können, was gefragt ist und was nicht. Deshalb spielt die Weiterbildung für mich eine zentrale Rolle. Es geht darum, bestehende Kompetenzen zu erhalten und neue auszubauen. Die neue Weiterbildungsstrategie der Bundesregierung setzt genau hier an. Mit dem Qualifizierungschancengesetz eröffnen wir neue Weiterbildungsangebote, nicht nur für diejenigen, die unmittelbar von Arbeitslosigkeit bedroht sind, sondern für alle, die sich auf den Wandel vorbereiten wollen und somit selber zum Gestalter der Arbeit von morgen werden können. Darüber hinaus gibt es auch noch einen Zuschuss für das Arbeitsentgelt.

Die Gestaltung guter Arbeit sehe ich als weiteren Schwerpunkt an. Hierzu hat das Bundesarbeitsministerium die Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) ins Leben gerufen, in die gleiche Richtung geht auch die Kommitmensch-Kampagne  der Unfallkassen und Berufsgenossenschaften. Zu guten Arbeitsbedingungen zählt für mich ein entsprechendes Betriebsklima, das zum Beispiel durch einen Dialog auf Augenhöhe zwischen Mitarbeiter und Chef zustande kommt. Es muss Möglichkeiten geben, sich mit seinem Wissen und seinen Kompetenzen einzubringen. Dabei geht es nicht nur um digitale Kompetenzen, sondern zunehmend um soziale Interaktion. Nehmen Sie die tagtäglichen E-Mail-Kaskaden zwischen Kolleginnen und Kollegen anstatt einfach mal den Hörer in die Hand zu nehmen oder in den Nebenraum zu gehen und offene Fragen direkt, face-to-face, zu klären. Solche Probleme gilt es ebenso zu überwinden wie Hürden, die durch nationale oder kulturelle Unterschiede entstehen können. Ich bin der festen Überzeugung, dass eine gute Arbeitskultur sowie der Ausbau sozialer Kompetenzen mitentscheidend sein werden, um die Potenziale einer Arbeitswelt der Zukunft für den Standort Deutschland zu heben.

Mit der neuen Technologie geht auch ein Wandel von Zeit, Ort und sozialem Rahmen der Arbeit einher. Welche konkreten Schritte stehen beim Kulturwandel in den Unternehmen an?

Villwock: Damit haben wir uns mithilfe der Ergebnisse der Studie „Wertewelten Arbeiten 4.0“ in der letzten Legislaturperiode intensiv beschäftigt: Mehr als 1000 Menschen haben für diese Studie in anderthalb Stunden erklärt, was sie im Hinblick auf die Arbeitswelt bewegt. Dadurch haben wir vieles erfahren, was meist unterbewusst abläuft. Interessant ist die unterschiedliche Wahrnehmung von Arbeit. Zwischen Menschen, die ein großes Sicherheitsbedürfnis haben, bis hin zu denen, die Arbeit und Privatleben besser in Einklang bringen wollen sowie jenen, die aufgegeben haben in der Arbeit einen besonderen Sinn zu sehen, gibt es sieben verschieden Varianten. Im Hinblick auf die Digitalisierung sehen wir eine Dreiteilung – Menschen, die damit erhebliche Chancen verbinden; solche, die Ängste haben und andere, die eher fatalistisch diesen Entwicklungen betrachten. Die Frage nach der Arbeitszeit wird wahlweise mit dem Wunsch nach festen oder flexiblen Modellen beantwortet. Dies alles gilt überraschenderweise für alle Altersgruppen und unabhängig vom Geschlecht. Vergessen Sie somit die sogenannte Generation Y. Es gibt genauso viele Ältere, die einen hohen Freiheitsgrad lieben sowie Jüngere, die ein hohes Sicherheitsbedürfnis haben.
Daran zeigt sich: Unternehmer werden ebenso wenig wie Politiker eine Lösung finden, die für alle passt. Das ist die große Herausforderung. Wir müssen gemeinsam mit den Beschäftigten flexible Ansätze entwickeln. Gerade haben wir die Brückenzeit gesetzlich verankert, also den möglichen Wechsel von einer Vollzeit- in eine Teilzeitstelle und umgekehrt. Derzeit diskutieren wir die Wahloption für Arbeitszeit und -ort, dies wünschen sich mehr Erwerbstätige als die wenigen, die es heute schon können. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels, die sich in den kommenden Jahren ja erst noch entwickeln werden, muss die Vielfalt der Ansprüche und Bedürfnisse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ernst genommen werden.
Ich gehe davon aus, dass wir in den kommenden Jahren weniger starre Hierarchien in den Unternehmen haben werden, der Einzelne bekommt mehr Verantwortung. Dahinter steht der Wunsch des Kunden nach schnellen Entscheidungswegen. Wer bei dieser Entwicklung nicht mithalten kann, verliert. Das bedeutet, dass Chefs mehr Vertrauen in den Prozess und in die Mitarbeiter haben müssen – zugleich müssen diese aber auch vor Selbstausbeutung geschützt werden und gute Arbeitsbedingungen vorfinden.

Was erwarten Sie von den „Experimentierräumen“, die das BMAS eingerichtet hat?

Villwock: Bei den Projekten in den Experimentierräumen geht es um den Kulturwandel, um die Begleitung von Change-Prozessen – und um Möglichkeiten, alle Mitarbeiter eines Unternehmens dabei einzubeziehen. Erste Ergebnisse zeigen, dass die Gestaltung von Arbeit zentral ist. Chefs und Mitarbeiter müssen auf Augenhöhe kommunizieren. Denn wenn die Beschäftigten bei wichtigen Entscheidungen außen vor gelassen werden, scheitern Changeprozesse und Wissen für die Zukunft geht verloren. Ein Beispiel dafür ist für mich die Firma Airbus – ganz unabhängig von den Experimentierräumen. Dort schaffte man Neuerungen wie Exoskelette an, ohne mit den Beschäftigte gesprochen zu haben. Die Folge: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nutzten die Neuanschaffungen nicht. Seitdem bezieht Airbus die Beschäftigten konsequent bei zukunftsweisenden Entscheidungen mit ein.
Was uns die Experimentierräume außerdem zeigen: Es ist eine große Herausforderung, kleine agile Einheiten, die über die Zukunft eines Unternehmens nachdenken, mit der Linienfertigung zusammenzubringen.

Erfordert „Arbeiten 4.0“ nicht auch einen „Arbeitsschutz 4.0“? Was ist in diesem Zusammenhang aus Ihrer Sicht besonders wichtig?

Villwock: Beim Arbeitsschutz sollten wir den Arbeitsschutz 1.0 nicht aus den Augen verlieren. Gerade habe ich noch auf einer Baustelle gesehen, wie sehr weiterhin darauf geachtet werden muss, dass Schutzhelme und Arbeitsschuhe getragen sowie Gerüste richtig aufgebaut werden. Tödliche Unfälle passieren immer noch, weil viele von der Leiter fallen.

Andererseits werden die Belegschaften in den Unternehmen älter, bunter, weiblicher – eine gute gesunde und motivierende Arbeitsgestaltung muss sich darauf einstellen. Die Digitalisierung ist vielfach Treiber für gute Arbeitsbedingungen. Doch während Roboter uns die Arbeit erleichtern können und für geringere körperliche Belastung sorgen, gibt es gleichzeitig mehr Möglichkeiten, Menschen zu kontrollieren. Gesundheitsrisiken durch psychische Belastungen nehmen zu, indem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter rund um die Uhr erreichbar sind. Wir brauchen ein Umdenken in Sachen Prävention in den Unternehmen, auch die Beschäftigten selbst müssen achtsam mit sich umgehen. Auch mal den Blaumann oder den Anzug an den Nagel hängen und abschalten, privat sein.
Ein weiteres Feld ist die Kommunikation zwischen Maschinen in Produktionsstraßen. Wer garantiert, dass dabei alles problemlos und sicher für die dort arbeitenden Menschen abläuft – vielleicht künstliche Intelligenz? Dafür brauchen wir neue Konzepte. Insgesamt wird das Thema Sicherheit an Bedeutung gewinnen. Die selbststeuernden Autos sind für mich ein Beispiel, letztlich auch nur ein fahrender Roboter: Bei ihnen muss die Technik um ein Vielfaches sicherer sein, um die Menschen zu überzeugen. Wir brauchen hier gute Schnittstellen, die Sicherheit garantieren und gleichzeitig die Potentiale einer sich digitalisierenden Arbeitswelt heben. Schaffen wir das, spielen wir ganz vorne mit.

Welche Vorhaben zur Digitalisierung mit Bedeutung für den Arbeitsschutz stehen auf der Agenda der Bundesregierung?

Villwock:  Bei der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA, www.gda-portal.de) legen wir besonderen Wert darauf, die Gefährdungsbeurteilung in kleinen Betrieben und damit insgesamt in Unternehmen stärker zu verankern. Außerdem sollten die Schnittstellen in den Bereichen Safety und Security besser beschrieben werden, um gute Arbeitsbedingungen zu erreichen. Wie wollen wir zum Beispiel zukunftsweisende Apps nutzen, wenn Sicherheitsbeauftragte (z.B. IT-Beauftragte ) bei den meisten vor der Nutzung warnen? Meine Vision für einen zukunftsweisenden Arbeitsschutz wäre, dass wir zeigen, wie Sicherheit und Gesundheit auch in einer digitalen Arbeitswelt auf hohem Niveau realisiert werden kann. Der Arbeitsschutz sollte Ermöglicher von Guter Arbeit unter breiter Nutzung der neuen digitalen Möglichkeiten werden. Große Chancen sehe ich auch in der Nutzung Künstlicher Intelligenz – sie könnte zum Beispiel die Sicherheit einfacher Prozesse in der Produktion selbst überprüfen. Dann muss der Mensch nur noch aufmerksam darauf achten, dass auch bei komplexen Vorgängen alles vorschriftsmäßig abläuft.