Im Gespräch

Arbeit für alle – Unterstützung für Schwerbehinderte

Anfang des Jahres 1919 schlägt die Geburtsstunde der staatlichen Hauptfürsorgestellen: Der Erste Weltkrieg ist gerade vorbei und eine halbe Million Kriegsbeschädigte und unzählige Kriegswaisen und -witwen brauchen Unterstützung in ihrer Not. Heute – 100 Jahre später – hat die Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen (BIH) andere gesellschaftliche Aufgaben. Im Basi-Interview erklärt der BIH-Vorsitzende Christoph Beyer die aktuellen Herausforderungen und erläutert, was eine inkludierte Gefährdungsbeurteilung bringt.

Es war eine lange Entwicklung von den Hauptfürsorgestellen bis zu den heutigen modernen Integrationsämtern. Was waren Meilensteine dieser Entwicklung – insbesondere für die Inklusion in der Arbeitswelt?

Beyer: Kurz nach dem Ersten Weltkrieg bestand die Aufgabe der Hauptfürsorgestellen darin, die Kriegsbeschädigten im medizinischen Bereich und bei der Wiedereingliederung in Arbeit zu unterstützen. Es galt, Hinterbliebene sozial abzusichern. Die Grundlage für einen besonderen Kündigungsschutz Schwerbeschädigter musste geschaffen werden. 1953 wurde erstmals gesetzlich dafür gesorgt, dass Arbeitgeber eine Ausgleichsabgabe zahlen mussten, wenn sie keine Menschen mit Handicap einstellten. Durch diese Einnahmen konnten die Hauptfürsorgestellen ihr Klientel fortan gezielter unterstützen, z.B. durch technische Arbeitshilfen. Die größte Errungenschaft brachte das Jahr 1974: Das Schwerbehindertengesetz sichert seitdem schwerbehinderten Menschen einheitliche Rechte zu, unabhängig von der Ursache der Behinderung. 2001 gab es eine Neufassung des Neunten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB IX), das die Vorschriften zur Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderung in Deutschland enthält. In diesem Zusammenhang wurde der Bereich Arbeit den Integrationsämtern zugeteilt, die in Bayern und Nordrhein-Westfalen seit letztem Jahr  Inklusionsämter heißen. Das bezeichne ich als Meilenstein – die Entwicklung von der Fürsorge hin zur Teilhabe. Seit 2001 hat jeder schwerbehinderte Arbeitnehmer in Deutschland ein Anrecht auf einen behindertengerechten Arbeitsplatz. Und die Arbeitgeber sind zur Prävention verpflichtet, um so Kündigungen zu vermeiden, die betrieblich, durch die Person oder ihr Verhalten bedingt sein können.

Können Sie hierfür ein Beispiel nennen?

Beyer: Nehmen Sie den Fall von zwei Frauen, die zusammen in einem Unternehmen arbeiten. Die eine ist kognitiv eingeschränkt, hat Probleme mit dem Einschätzen von Distanz. Die andere nicht. Dann verliebt sich die erste in die zweite und versucht, sich ihr zu nähern… Jetzt ist ein besonderer Umgang mit diesem Verhalten notwendig, da die Kollegin es aufgrund ihrer Behinderung nicht steuern kann. In einer solchen Situation sucht der Arbeitgeber gemeinsam mit dem Betriebsrat sowie dem Integrationsamt und dem entsprechenden Fachdienst nach einer Lösung. Ein anschaulicher Fall, in dem der Arbeitgeber sich so früh wie möglich kümmern muss, damit es nicht zu einer Gefährdung des Arbeitverhältnisses bis hin zur eventuellen Kündigung kommt.

Sollten allerdings beispielsweise betriebsbedingte Kündigungen anstehen, dann bieten die Integrationsämter Schulungen und Fortbildungen, damit die schwerbehinderten Beschäftigten in anderen Bereichen des Unternehmens oder bei einem anderen Arbeitgeber tätig werden können. In dieser Situation stimmen sich die Integrationsämter mit anderen Rehabilitationsträgern wie der Rentenversicherung oder der Arbeitsagentur darüber ab, wer die passende Fortbildung bezahlt.

Welche Aufgaben, Unterstützungs- und Dienstleistungsangebote haben die Inklusionsämter darüber hinaus?

Beyer: Wir fördern Arbeitgeber dabei, dass sie Schwerbehinderten entsprechende Arbeitsplätze zur Verfügung stellen können – und kümmern uns, wenn es Probleme gibt. Im Grunde kann einem Arbeitgeber nichts Besseres passieren, als einen Schwerbehinderten einzustellen. Er weiß, was auf ihn zukommt, welche Einschränkungen der Mensch hat und welche Unterstützungs- sowie Fördermöglichkeiten es gibt. Bei anderen Angestellten ist das ja so nicht bekannt.

Was die Beurteilung der Arbeitsplätze angeht, so können wir speziell im Rheinland auf die gute Zusammenarbeit mit den Handwerkskammern und den Industrie- und Handelskammern bauen. Bei ihnen sind Kammerberater angestellt, die wir finanzieren. Diese gehen vor allem auch in kleine und mittelständische Unternehmen und sind dort unverzichtbare Türöffner. Gemeinsam mit unseren Ingenieuren beraten sie die Arbeitgeber. Dieser Austausch ist für mich ein echtes Erfolgsmodell, kommt es doch der berechtigten Erwartung der Arbeitgeber nach, einen verlässlichen Ansprechpartner für ihre Anliegen rund um die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen zu haben.

Zu den finanziellen Leistungen der Integrationsämter zählt zudem die Arbeitsassistenz für Menschen mit schwerer Behinderung, die immer häufiger angefragt wird

Die Inklusion ist ja, zuletzt besonders angeschoben durch die UN-Behindertenrechtskonvention, längst dabei, über ihre angestammte „Nische“ hinaus ein „universelles“ Thema der Arbeitsgestaltung zu werden. Welche Rolle sollte das Thema Inklusion im Gefüge des Arbeitsschutzes/der Arbeitsgestaltung spielen?

Beyer: Aus meiner Sicht sind Arbeitsschutz und –gestaltung gleichbedeutend mit gelebter Inklusion im Betrieb. Das bedeutet, jeder Mitarbeiter soll an seinem Arbeitsplatz die Möglichkeit bekommen, unfallfrei die Fähigkeiten einzusetzen, die er hat.

Was macht z.B. eine inkludierte Gefährdungsbeurteilung aus (als „normaler“ Bestandteil einer Beurteilung der Arbeitsbedingungen, wie sie das Arbeitsschutzgesetz verlangt)?

Beyer: Dazu haben wir kürzlich ein Forschungsprojekt mit dem Institut für Arbeitsmedizin, Sicherheitstechnik und Ergonomie (ASER) in Wuppertal  abgeschlossen, das Leitbilder, Strategien und Instrumente für Übergänge zu einer nachhaltigen Entwicklung erforscht und entwickelt. Das Ziel dieses Projektes war eine sinnvolle Ergänzung der Gefährdungsbeurteilung, die jeder Betrieb ohnehin für alle Arbeitsplätze machen muss. Die Ergänzung sollte für alle Beteiligten gut verständlich und umsetzbar sein.Geht es etwa darum, ob ein Mensch mit Höreinschränkungen an der Kreissäge arbeiten kann, weil er sie ja akustisch nicht wahrnimmt, dann kann auf Basis der Gefährdungsbeurteilung gemeinsam mit dem Kammerberater eine Lösung entwickelt werden. Die ist in diesem Fall natürlich naheliegend: Ein Lichtsignal warnt den Mitarbeiter vor der laufenden Kreissäge. Unser Ziel war von Anfang an, dem Arbeitgeber nicht noch mehr Arbeit aufzubürden, sondern ihm eventuelle Unsicherheiten zu nehmen und es ihm so leicht wie möglich zu machen, sich für die Beschäftigung eines schwerbehinderten Menschen zu entscheiden.

Die Inklusionsämter unterstützen ja auch wesentlich die Schwerbehindertenvertretungen in Betrieben. Wie sieht ihre Rolle in diesem Zusammenhang aus?

Beyer: Die Schwerbehindertenvertretungen sind für uns ein unverzichtbarer Partner in den Betrieben und Dienststellen. Sie wissen vielfach durch den persönlichen Kontakt vor Ort am besten, wo Unterstützungsbedarf besteht und welche Maßnahmen angeraten sind. Die Integrationsämter unterstützen sie durch ein umfangreiches Schulungs- und Informationsangebot. Dieses wird in den einzelnen Ländern angeboten und basiert auf einer über die BIH abgestimmten Gesamtkonzeption. Wir setzen darauf, die Schwerbehindertenvertretungen künftig noch mehr gerade in den Bereichen Prävention und Arbeitsschutz/Arbeitssicherheit fit machen.

Welche Zukunftsaufgaben sehen Sie für die Inklusionsämter? Was sind aus Ihrer Sicht die nächsten Schritte?

Beyer: Für mich geht es künftig darum, stärker bei den Arbeitgebern präsent zu sein, damit noch mehr schwerbehinderte Menschen neu eingestellt werden und einen sicheren Arbeitsplatz erhalten. Wir müssen den Arbeitgebern die Bedenken vor dem Kündigungsschutz nehmen, der für Schwerbehinderte gilt. Und ihnen verdeutlichen, dass Investitionen in einen behindertengerechten Arbeitsplatz auch insgesamt einer älter werdenden Belegschaft zugutekommen. In diesem Zusammenhang werden inzwischen ohnehin mehr Rampen statt Treppen gebaut und es gibt automatische Türöffner.

Arbeitgeber brauchen außerdem mehr Begleitung, verlässliche und erreichbare  Ansprechpartner, die bei Schwierigkeiten helfen, die im Laufe eines Arbeitsverhältnisses entstehen können. Zum Beispiel in Fällen, in denen ein Mitarbeiter mit den Kollegen oder dem Vorgesetzten nicht gut zurechtkommt und dabei unter anderem seine Höreinschränkung eine Rolle spielt. Hier muss um gegenseitiges Verständnis geworben werden, die Einschränkung des Menschen mit Handicap muss im Kollegenkreis erläutert werden. Wir nennen das Jobcoaching und wollen dieses Angebot künftig weiter ausbauen.

Die BIH

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen (BIH) ist ein Zusammenschluss aller Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen im Bundesgebiet sowie der Mehrheit der Versorgungsverwaltungen. Die BIH vertritt die Interessen ihrer Mitglieder bei der Weiterentwicklung des Behindertenrechts und des Sozialen Entschädigungsrechts und steht dabei im Austausch mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales, den Rehabilitationsträgern sowie der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation.

Christoph Beyer übernimmt die Federführung der Veranstaltung für die Schwerbehindertenvertretungen beim A+A Kongress 2019. Stets aktuelle Informationen zum Kongress finden Sie auf den Basi-Seiten.